Freitag, 22. November 2013

Fokussierung unserer Empörung auf 'Überwachung' individuellen Verhaltens lenkt von globalen Bedrohungen ab

Unter Fachleuten besteht Übereinstimmung, dass eine flächendeckende Überwachung zur Abwehr von Kriminalität im Allgemeinen und von terroristischen Anschlägen im Besonderen nur einen kleinerern und zudem nicht besonders erfolgreichen Teil aller Aktivitäten der Netzspionage umfasst. Dass Wirtschaftsspionage im großen, globalen Stil stattfindet, ist ebenfalls unstrittig. Politische Partikularinteressen verhindern lediglich eine breitere öffentliche Diskussion. Die größte Gefahr geht jedoch von 'Cyberkriminalität' und 'Cyberwar' aus. Unsere privaten Bankkonten und Geldtransaktionen können zum Ziel solcher Attacken werden, soviel wissen wir bereits. Noch nicht bis ins öffentliche Bewusstsein sind Gefahren des 'Cyberkrieges' vorgedrungen. Sabotageakte, die z.B. auf die Kontrolle komplexer Industrieanlagen, kritischer Kommunikationsinfrastrukturen oder lebenswichtiger Versorgungseinrichtungen abzielen, sind bereits Realität und stellen eine weiter anwachsende Bedrohung dar. 'Cyberwar' findet nicht nur in Computerspielen statt. 'Stuxnet' war keine Ausnahme, sondern markiert den Beginn einer neuen Art der Kriegsführung mit Mitteln der Internettechnologie.

Aus aktuellem Anlass war die diesjährige Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA) am 12./13. November 2013 dem Themenfeld "Cybercrime – Bedrohung, Intervention, Abwehr" gewidmet (Übersicht der Beiträge mit Downloads).
Die drängende Frage, wie wir uns gegen diese Bedrohungen wehren können, entbößt ein noch größeres Problem. Eine sachliche Betrachtung fördert die Erkenntnis, dass aktuell keine sichere Chance zur Abwehr dieser Gefahren besteht, weil die Problematik in strukturellen Schwächen des Netzes angelegt ist. 'Cyberwar' nutzt diese Schwächen für die Entwicklung einer völlig neuen, unsichtbaren Gattung von Waffen. 'Cyberkiminalität' kennt und nutzt diese Schwächen ebenfalls.
  • Konstanze Kurz, Informatikerin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin, begründet in einem Artikel der FAZ vom 15.11.2013, weshalb die geschäftliche Praxis der Netzverbindungen und die Arroganz großer Internetanbieter Datensicherheit derzeit unmöglich macht: Direkter Draht ins abhörende Ausland  
  • Sandro Gaycken, Informatiker der FU Berlin, bringt diese Problematik auf den Punkt, wenn er in einem am 14.11.2013 veröffentlichten Interview mit der FAZ fordert: Werft eure Comupter weg!
Hinschtlich der Frage, ob Auswege aus dieser Lage zu erkennen sind, trösten uns neun IT-Experten mit persönlichen Stellungsnahmen in einer Artikelserie der FAZ mit Hoffnung: Ja, es geht! Die Hürden sind jedoch außerordentlich hoch, sie erfordern nicht weniger als den Aufbau einer neuen europäischen IT-Infrastruktur. Schlüsselbedeutung erhielten in einer solchen Infrastruktur Open Source-Produkte.

Aber machen wir uns nichts vor. Der Aufbau einer europäischen IT-Infrastruktur erfordert große Anstrengungen auf der Ebene europäischer Kooperationen. Das ist keine leichte, aber auch keine unmögliche Aufgabe, wie einige erfolgreiche europäische Projekte lehren (neben denen leider auch zahreiche, weniger erfolgreiche europäische Projekte zu konstatieren sind). Am Vorhandensein notwendiger Skills (Fähigkeiten und Kompetenzen) besteht kein Zweifel und das Bemühen beteiligter Experten kann ebenso vorausgesetzt werden. Wenig zuversichtlich stimmt jedoch die Frage, ob auf europäischer Ebene ein politischer Wille durchsetzbar ist, der nicht nur nationale Grenzen überwindet, sondern sich auch von amerikanischen Interessen emanzipiert. Um grundlegende Veränderungen zu bewirken, bedarf es eines hohen öffentlichen Drucks. Dieser fehlt jedoch aktuell. Unter diesen Bedingungen werden wir auf nicht absehbare Zeit den Gegebenheiten ausgeliefert sein.

Solange sich unsere Wahrnehmung auf individuelle Ärgernisse reduziert (z. B. Spam-Mails, Computerschädlinge, gefälschte Identitäten und Kontendiebstähle) besteht ein tiefes Unverständnis des eigentlichen Gefahrenpotentials. Bildlich gesprochen maskieren solche wahrnehmbaren Vorgänge nur die Spitze eines Eisberges, dessen tatsächliche Ausmaße unsichtbar beleiben, weil sie unter der Wasseroberfläche liegen. Hinweise auf strukturelle Probleme technischer Art sowie auf politische Interessen und Abhängigkeiten rechtfertigen keine 'Persilscheine', die uns von persönlicher Verantwortung reinigen. Der Redetext zur 'StopWatchingUs-Demonstration' vom 28.09.2013 in Lübeck macht auf unsere Eigenverantwortung aufmerksam. (Download des Textes im PDF-Format: Globale Überwachungsgesellschaft unter der Herrschaft digitaler System)
In einem Gespräch mit Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bestätigt Michael Hange, Präsident des 'BSI'(*) die Bedrohung und betrachtet die NSA-Debatte als einen 'Weckruf', der uns zum Umdenken veranlassen sollte. In der Print-Ausgabe vom 22.11.2013 veröffentlicht die FAZ dieses lesenswerte Gespräch unter dem Titel "Der immense Einsatz an Geld hat uns überrascht". FAZ-Online übertitelt das Gespräch mit einer deutlichen Warnung: "Wir müssen von einer massiven Bedrohung der Wirtschaft ausgehen" 

Die Sprache wird deutlicher und der Ton wird härter. Trotzdem scheint es jedoch eher so zu sein, dass nur wenige Menschen die NSA-Debatte als Weckruf vernehmen bzw. die meisten Menschen den Ruf überhören, weil sie nicht informiert sind, sich nicht als Betroffene sehen oder vermeintlich wichtigere bzw. dringendere Tätigkeiten bevorzugen. Die Gründe für Haltungen und Handlungsweisen können vielfältig sein. Welche Gründe auch immer anzuführen sind, sie übersehen das Gefährdungspotential von Entwicklungen, deren Ausmaß und Konsequenzen noch nicht im Detail zu überblicken sind, aber uns alle betreffen. "Wer nicht hören will, muss fühlen", besagt eine deutsche Redensart.

Die 'Wirtschaft' (wer immer das sein mag), hat inzwischen den Weckruf vernommen und wittert eigene Chancen, wenn etwa die Deutsche Telekom AG ein europäisches E-Mail-Netz anregt, eine Reihe von Unternehmen ihre Cloud-Lösungen in Position rücken und auf Sicherheit spezialisierte Unternehmen ihre Dienstleistungen anpreisen. Sämtliche dieser Ansätze sind zu kurz gedacht. Sie laborieren an Symptomen und dienen uns Sicherheit als Mogelpackung an.  

Das Erwachen droht nicht nur für die 'Wirtschaft' bitter zu werden, sondern für uns alle. Schließlich sind wir alle in unterschiedlichen Rollen nicht nur Teilnehmer oder Nutznießer der Wirtschaft, sondern auch Teilnehmer einer politischen und sozialen Kultur. Unser gesamtes Gesellschaftssystem steht unter dem Einfluss von Entwicklungen, die überwiegend außerhalb unserer Kontrolle stattfinden und zunehmend Kontrolle über uns gewinnen. Technologische Entwicklungen sind nicht umkehrbar. Wie die Veranwortung für den Umgang mit Technologie in einem Sinne gestaltetet und verteilt werden kann, der im Interesse aller Menschen als vernünftig gelten kann, ist eine Frage, deren Beantwortung wir weder den Technologiekonzernen noch der Politik und ihren Geheimdiensten exklusiv überlassen dürfen.
  
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(*) Das 'Bundesamt für Informationstechnik' (BSI) ist eine Bundesbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für das Innere, die sich mit Sicherheitsfragen im Netz befasst und regelmäßig über akute Gefahren informiert: Webseite des BSI 

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